Dwasieden (†) (K)
An der südwestlichen Peripherie von Saßnitz stand hart an der Steilküste das 1873–1876 nach einem Planentwurf von Friedrich Hitzig (1811–1881) errichtete Schloss Dwasieden.[1] Das imposante Gebäude (herausragende Baumaterialien: schwedischer Granit und französischer Sandstein) zählte zu den Spätwerken des bekannten Berliner Architekten, der sich in Pommern auch federführend am Bau der Herrenhäuser in Behrenhoff, Neetzow, Kartlow und Ruhnow (Runowo) beteiligt hatte. Erster Eigentümer und Bauherr von Dwasieden war der Geschäftsführer der Direktion der Disconto-Gesellschaft in Berlin, Adolph von Hansemann.[2]
1871 weilte der erfolgreiche Bankier anlässlich einer Rügenreise im Raum Saßnitz-Crampas. Der dortige Landstrich an der See hatte es ihm wohl besonders angetan, denn er erwarb ein Jahr später von dem überschuldeten Gutsherrn Eduard von Barnekow die Güter Lanken und Dargast sowie die Hofstellen Lenz und Promoisel. Auf seiner neuen Besitzung ließ von Hansemann mehrere Stallungen und Wohngebäude errichten, die seinerzeit auf Rügen und darüber hinaus zu den modernsten ihrer Art gehörten.[3] In dem von ihm ausgelösten „Bauboom“ nahm der oben genannte Schlossbau sicher den bedeutendsten Platz ein. Der etwas über 80 Meter lange Gebäudekomplex – einschließlich der sich seitlich anschließenden Kolonnaden und Pavillons – gehörte ohne Zweifel zu den massivsten und qualitätsvollsten ländlichen Pronfanbauten ganz Pommerns. Bei Neidhardt Kraus lesen wir dazu Folgendes: „Schloß Dwasieden war ein quadratischer, zweigeschossiger Bau, dessen Hauptfront zur Ostsee zeigte. Diese Seite des Schlosses war durch seitlich angeordnete Säulengänge, die in offenen tempelartigen Pavillons endeten, besonders betont. Am Schloß waren verschiedene auffallende Bauelemente zu finden. Dazu gehörte der nach innen gezogene Eingang, der sich hinter einer aus sechs Säulenpaaren bestehenden Säulenreihe verbarg. Dominierend waren die beiden an den Eckseiten des Schlosses angeordneten Risalite, die als dreigeschossige Turmbauten das übrige Schloß überragten. Vom Eingang aus gelangte man über eine einarmige, gewendelte Treppe in die obere Etage. Der aus farbigen Steinplatten gefertigte Fußboden des Treppenhauses war mit Läufern bedeckt.“[4]
Im Einzelnen bestand die gründerzeitliche Schlossanlage (Streichrichtung Südwest–Nordost) aus dem Haupttrakt (ca. 31 × 32 Meter, zweigeschossig, hohes Souterrain, zwischen Erdgeschoss und Obergeschoss Gesimsband, Fensterverdachungen des Obergeschosses in Dreiecksform, über Traufe Balustrade, deren Postamente seeseitig mit Statuen besetzt, an besagter Front zwei integrierte Ecktürme [je Exemplar: 8 × 8 Meter, dreigeschossig, obere Aussichtsplattform ebenfalls mit Balustrade, auf Eckpfeilern Ziervasen, an Seeseite Balkon, an Kolonnadenseite kleiner Anbau von 3 × 5 Metern], Türme ca. ein Meter aus der Gebäudeflucht hervortretend, dazwischen in Erdgeschosshöhe mehrere Arkaden, diese von sechs Doppelsäulen getragen, dahinter Vorhalle mit offener Südostseite und kunstvoller Deckenmalerei, davor große Freitreppe, oberhalb Arkaden loggiaartiger Frontbereich mit weiterer Balustrade und sechs Rundsäulen, an Gegen- beziehungsweise Nordwestseite dreiachsiger Mittelrisalit, in Obergeschosshöhe desselben große Rundbogenfenster, diese pilastergegliedert, vor dortigem Hauptportal Auffahrt mit säulengestützter Überdachung, auf Frontispiz des Risalits zwei Eckpalmetten und eine allegorische Statue, im Giebelfeld figurale Darstellungen), den beiden, sich an die Turmanbauten anschließenden Kolonnaden (pro Exemplar: 18 × 4 Meter, Streichrichtung Nordost–Südwest, gequadertes Sockelgeschoss, Flachdach, sechs Rundsäulenpaare) und zwei, die Kolonnaden verlängernde Pavillons (pro Vertreter: 6 × 11 Meter, zum Säulengang quergestellt, Sockelgeschoss gleichermaßen gequadert, nordwestliche Schmalseite apsidial geschlossen, übrige Seiten offen, Öffnungen durch zwei Säulen gedrittelt, Pilastergliederung). Das Hauptgebäude sowie die sich seitlich anschließenden Kolonnaden und Pavillons bildeten seeseitig eine geschlossene Frontlinie von 85 Meter Länge.
Unter den insgesamt 33 Schlossräumen im Erdgeschoss und Obergeschoss nahm der zentral gelegene Empfangssalon oder Festsaal (16 × 10 Meter, 14 Meter hoch, großes rechteckiges Oberlicht, in Obergeschosshöhe umlaufende Galerie wie im Kuppelsaal des Schlosses Neetzow, zwei Kamine mit rundbogigem Spiegelaufsatz, Wände durch Pilaster und Überfangbögen gegliedert, im Voutenbreich doppelte Konsolreihe) zweifelsohne eine Sonderstellung ein. Nicht minder prächtig war das hinter dem „Entrée“ liegende Vestibül (10 × 6 Meter, 17 Meter hoch) mit seiner dreiläufigen Treppenanlage und dem offenen zweigeschossigen Korridor (in Richtung Festsaal gelegen, Obergeschoss galerieartig ausgebildet, dieses von zwei Rundsäulenpaaren getragen und mit zwei gleichnamigen Exemplaren besetzt, an Obergeschoss-Südostwand die in Marmor gehauene Jagdgöttin Diana).[5]
Aufgrund der weitreichenden Beziehungen der Familie von Hansemann und ihrer Besitznachfolger gaben sich im Dwasiedener Schloss hohe und höchste Persönlichkeiten aus Deutschland und der Welt ein Stelldichein. Zu ihnen zählten: der chinesische Botschafter in London, Tseng Marquis of Gnyong; der chinesische Gesandte in Berlin, Hsü Ching Cheng (beide 1886); die deutsche Kaiserfamilie (1895); Wilhelm II. und der schwedische König Oskar II. anlässlich der Eröffnung der Fährlinie Sassnitz–Trelleborg (1909); Gerhart Hauptmann (1928) sowie der spätere schwedische König Gustav VI. Adolf (1934 zum 25-jährigen Jubiläum der „Königslinie“).[6]
Im Hinblick auf den oben genannten Aufenthalt des Literaturnobelpreisträgers Gerhart Hauptmann (1982–1946) in Dwasieden sei darauf verwiesen, dass der große Schlesier „hier den passenden Rahmen für die geplante Hochzeit seines 28-jährigen Sohnes Benvenuto (1900–1965) mit der Prinzessin Elisabeth von Schaumburg-Lippe (1908–1933)“ fand. Die Trauung des jungen Paares wurde am 31. Juli 1928 um 14 Uhr im Saßnitzer Standesamt vollzogen, und die groß angelegte Hochzeitsfeier lief einen Tag später im Schloss über die „Bühne“. Allerdings war den beiden Neuvermählten nur ein kurzes gemeinsames Glück beschieden, da ihre Ehe schon nach drei Monaten „für nichtig erklärt“ wurde.[7]
Nach dem Tode Gustav von Hansemanns im Jahre 1903 fielen Schloss und Park (16 Hektar) und alle übrigen Besitzungen des Verstorbenen (darunter auch das Hauptgut Pempowo in der Provinz Posen) an seinen Enkel Albrecht. Als dieser bereits 1917 an einer Kriegsverletzung starb, übernahm der noch minderjährige Gert von Oertzen (1910–1996, Neffe des Vorgenannten) den Besitz.[8]
Anfang der 1930er-Jahre wollte man in Dwasieden ein „Nordisches Kunstzentrum“ einrichten. Desgleichen hegte eine Hamburger Investorengruppe die Absicht, das Schloss in ein Spielkasino umzuwandeln. Beide Vorhaben waren jedoch infolge knapper Kassen zum Scheitern verurteilt. Dafür trat nun die Gemeinde Saßnitz mit dem Projekt eines Kreideheilbades auf den Plan. Da der vorgelegte Entwurf den damaligen Eigner Gert von Oertzen überzeugte, verkaufte er das herrschaftliche Anwesen im August 1935 an das Seebad. Der Saßnitzer Rat hatte aber nur als vorgeschobener Posten der deutschen Kriegsmarine agiert, die nun ihrerseits von der Immobilie Besitz ergriff, um vor Ort mit neuen Kasernenbauten vollendete Tatsachen zu schaffen. Außerdem verlegte die Marine ihre Entfernungsmesschule von Kiel nach Dwasieden, sodass die dortige Inselgarnison durch die IV. Schiffsstammabteilung aufgestockt werden musste.[9]
Am 6. März 1945 erfolgte ein alliierter Luftangriff auf Saßnitz, bei dem ca. 1200 Flüchtlinge, Einwohner und Soldaten ums Leben kamen. Die meisten von ihnen fanden auf dem im Dwasiedener Park angelegten „Waldfriedhof“ ihre letzte Ruhestätte. Von Anfang Mai bis Mitte November 1945 wurden das Schloss und die umliegenden Kasernen von der Roten Armee genutzt (erste Plünderungen), nachfolgend schürten dort bis 1947 ostdeutsche Flüchtlingsfamilien das Herdfeuer. Trotz knapper Kassen sollte der Kasernenkomplex zu der Zeit in einen Wohnpark umgestaltet werden. Da das Vorhaben jedoch auf Sand gebaut war, wurden fast alle Gebäude, darunter auch das Schloss, im Frühjahr 1948 gesprengt. Schon bald danach gelangte das verlassene Areal am Dwasiedener Hochufer an die Volksmarine der DDR, womit der Startschuss für die Errichtung neuer Kasernen, Depots und Wirtschaftsgebäude gefallen war.[10] Mit dem Untergang der DDR (3. Oktober 1990) verwaiste der alte Militärstandort abermals. Daran hat sich trotz der von Saßnitz ausgelösten Aktivitäten zur Revitalisierung der Gebäude selbst im neuen Jahrtausend kaum etwas geändert.
Somit bleibt festzustellen: Von der historischen Schlossanlage ist nur wenig geblieben, doch auch das Wenige (zwei desolate Eckpavillions, mehrere Säulenstümpfe und Fundamentreste sowie der gebrandschatzte Marstall) zeugt noch heute (2010) von der einstigen Pracht des weißen Schlosses am Meer.
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[1] Holz, Martin: Schloss Dwasieden auf Rügen, in: Die Pommersche Zeitung, Folge 25/01, 23. Juni 2001, S. 16
[2] Krauß, Neidhardt: Das Schloss Dwasieden und der Architekt Friedrich Hitzig, in: Rügener Heimatkalender, 1994, S. 66, siehe auch Krauß, Neidhardt: Der Architekt Friedrich Hitzig und seine Schlossbauten in Mecklenburg und Vorpommern, in: Baltische Studien, Neue Folge, Band 79, 1993, S. 58; nach Michael Berndt, angehender Geologe aus Groß Kedingshagen, soll es sich bei der Außenverkleidung von Schloss und Marstall nicht um Sand-, sondern um Kalkstein handeln.
[3] Holz, Martin: Gründergeist auf Rügen, in: Die Pommersche Zeitung, Folge 28/03,12. Juli 2003, S. 16
[4] Krauß, Neidhardt: Das Schloss Dwasieden und der Architekt Friedrich Hitzig, in: Rügener Heimatkalender, 1994, S. 66
[5] Lindemann, Ralf: Das weiße Schloss am Meer, o. O. 2003, S. 14ff.
[6] Holz, Martin: Gründergeist auf Rügen, in: Die Pommersche Zeitung, Folge 28/03,12. Juli 2003, S. 16
[7] Lindemann, Janet und Ralf: Zwischen den Gängen in die Flut, in: Ostsee Zeitung, Stralsunder Zeitung, Wochenendjournal vom 21./22. August 2010, S. II
[8] Holz, Martin: Schloss Dwasieden auf Rügen, in: Die Pommersche Zeitung, Folge 25/01, 23. Juni 2001, S. 16; vgl. auch Lindemann, Janet und Ralf: Zwischen den Gängen in die Flut, in: Ostsee Zeitung, Stralsunder Zeitung, Wochenendjournal vom 21./22. August 2010, S. II
[9] Holz, Martin: Schloss Dwasieden auf Rügen, in: Die Pommersche Zeitung, Folge 25/01, 23. Juni 2001, S. 16
[10] Ebd., S. 16
Abkürzungen:
(†) Untergegangenes Haus
(K) Kurzbeschreibung
Fotografien und historische Abbildungen
- Dwasieden, abgängiges Schloss, südwestlicher Pavillon von Süden, Mai 1996; Foto: D. Schnell
- Dwasieden, das Schloss vor 1945 von Osten, aus: Lindemann, Ralf: Das weiße Schloss am Meer, o. O. 2003, S. 18, Repro: Verf., Mai 2014
- Dwasieden, abgängiges Schloss, Säulenreste vor Schuttfläche, Mai 1996; Foto: D. Schnell
- Dwasieden, Marstall, Südwestseite, Mai 1996; Foto: D. Schnell